2. SZENE

Ein Kaffeeautomat wurde aufgestellt. Die Postfrau kommt, schwer bepackt mit einem riesigen Müllsack.

POSTFRAU: Wieder 65 Kilo heute. Lange mach' ich das nicht mehr mit. Was sich die Leute da alles ins Haus kommen lassen. Schlankheitspillen, Potenzmittel, Schönheitspackungen … Vor allem die da oben in ihren Ministerien.

ANNE SCHULZE: Die haben es wohl nötig.

POSTFRAU: So weit ist es mit uns gekommen. Reich und schön mußt du sein. Sonst bist du gar nichts. Wirft den Sack zu Boden. Setzt sich. Bemerkt den Automaten. Eben wie im Westen.

ANNE SCHULZE: Kaffee?

POSTFRAU: Muß man sich erst mal dran gewöhnen.

ANNE SCHULZE: Schwarz? Komplett mit Milch und Zucker?

POSTFRAU: Lieber komplett. Wie früher.

ANNE SCHULZE: Macht 'ne Mark.

POSTFRAU: Fast wie früher.

Postfrau gibt ihr ein Markstück, Klofrau nimmt es. Wirft es in den Automaten, läßt Kaffee zubereiten.

ANNE SCHULZE: Ganz leicht selbst zu machen. Wie im Handumdrehen. Und keinen Abwasch mehr. Sie nimmt den Becher aus dem Automaten, stellt ihn ihr hin. Bereitet sich selber einen zu. Schon der fünfte heute. Dieses Wunderwuzziding - wie es da brummt und zischt, und dann kommt da unten richtiger Kaffee raus - und schmeckt besser als in der Mitropa!

POSTFRAU: Weit ist es mit uns gekommen.

ANNE SCHULZE: Man muß ja jetzt auf dem Laufenden sein, daß der Zug nicht ohne einen abfährt. Muß sich immer was Neues einfallen lassen. Muß den Kunden was bieten. Weil neuerdings sparen sie ja alle am Toilettenbesuch. Wollen den Westwagen und die neue Schrankwand einsparen. Dabei: Da muß einer schon hundert Jahre lang aufs Toilettengehen verzichten, damit so 'ne Schrankwand wieder herinnen ist. Vom Westwagen will ich erst gar nicht reden. Und dem ganzen Dreck, den man da selber wegzumachen hat. Soviel geht nicht mal in die größte Schrankwand hinein.

POSTFRAU: Ich hab noch immer meine olle Ostwand. Nee, wenn ich daran denke, wie lange ich auf die gewartet habe, mir täte es das Herz brechen, mich von ihr zu trennen. Eine richtige Beziehung haben wir zueinander aufgebaut, mit den Jahren. So was wirft man nicht einfach weg. Natürlich, sie hat eben auch ihre Ecken und Kanten. Aber das ist ja mit meinem Ollen das gleiche. Und den hab ich deswegen trotzdem nicht zum Teufel gejagt.

Eine Gruppe amerikanischer Touristen kommt die Treppe herunter. Jeder einen Fotoapparat dabei. Blitzlichtgewitter.

POSTFRAU: Wie die Wilden.

ANNE SCHULZE: Wie im Zoo.

TOURISTEN: Hi!

ERSTER TOURIST: How nice!

ZWEITER TOURIST: Really lovely!

ERSTER TOURIST zu Anne Schulze, ihr den Fotoapparat überreichend, die Worte dabei mit Gesten unterstützend: Please, could you take a picture…? … A foto, bitte.

Die Touristen hängen Anne Schulze ihre Fotoapparate um, begeben sich in Pose. Anne Schulze greift sich wahllos einen Apparat nach dem anderen, drückt ab.

POSTFRAU zu Anne Schulze: Vielleicht noch eins mit original Begrüßungsbananen - Greift in ihren Postsack, nimmt ein paar Bananen heraus, wirft sie den Touristen zu.

TOURISTEN: Thanks. Dankescheen. Very kind.
Sie begeben sich nochmals in Pose, zerren die Postfrau zu sich, die es widerwillig aber doch geschehen läßt, beißen während des Fotografierens von den Bananen ab.

ANNE SCHULZE: So ein richtig doofes Begrüßungsfoto.

GENOSSE ERICH&ERICH kommt die Treppe herunter, applaudierend: Aufschwung Ost für alle! Freundschaft, Genossen!

ERSTER TOURIST: Wer ist diese Mann?

ZWEITER TOURIST: So nice!

ANNE SCHULZE: Unser allerwertester Genosse Erich und Erich.

POSTFRAU: Original Ossi. Hundert Prozent.

ZWEITER TOURIST: Oh!

ERSTER TOURIST: Eine Foto! Mit ihm! Deutet zu Anne Schulze, legt seinen Arm um Genossen Erich&Erich, posiert.

GENOSSE ERICH&ERICH Dialog mit sich selbst führend: Genosse Erich an Genossen Erich: Kollaboration mit dem Klassenfeind! Genosse Erich an Genossen Erich: Imperialisten sind auch nur Menschen. Genosse Erich an Genossen Erich: Das muß zu den Akten! Genosse Erich an Genossen Erich: Aber wir lieben uns doch alle! Genosse Erich an Genossen Erich: Das ist mein Satz! Genosse Erich an Genossen Erich: Privateigentum ist abgeschafft. Genosse Erich an Genossen Erich: Verhaften Sie den Mann.

Die Touristen reißen Anne Schulze die Fotoapparate herunter bzw. aus der Hand, stecken ihr im Gehen Geldscheine zu.

ZWEITER TOURIST im Gehen: Sehr lustige Mann, really!

ERSTER TOURIST im Gehen: Ossis are very funny men!

POSTFRAU: Da kommt's einem wirklich hoch.

ANNE SCHULZE: Geld stinkt schließlich nicht.

GENOSSE ERICH&ERICH: Aber diese Ausgeburten des Imperialismus. Die Nase rümpfend: Wie in Duftwasser gebadet. Dekadenz pur. Nee, da muß ich mal wieder an die frische Luft. Ab.

POSTFRAU: Na, da ist hier unten die Luft bald frischer als die stickige Stadtluft dort oben.

ANNE SCHULZE: Heute wieder nichts dabei für mich?

POSTFRAU: Nichts, womit ich gleich mit der Tür ins Haus fallen möchte.

ANNE SCHULZE: Was Unangenehmes also? Haben die den Pachtzins schon wieder raufgesetzt? Zuzutrauen wär's denen von der FAKO. Da haben die letztes Mal Kontrolle gemacht. Natürlich unangemeldet, versteht sich.

POSTFRAU: Ja, Mißtrauen ist gut. Kontrolle ist besser … wie früher.

ANNE SCHULZE: Aber ich sage Ihnen, Frau Schwatzke, die sind ärger als die von der Stasi! Wenn da einer von denen zur Revision kommt. Wo da überall 'rumgeschnüffelt wird. Jede Papierrolle wird da genau unter die Lupe genommen. Ob's wohl die richtige Qualität ist. Von wegen Qualitätsstandard und solchem Unsinn. Dabei, wenn ich daran denke, womit wir uns 40 Jahre lang den Hintern haben auswischen müssen - und niemanden hat's gejuckt! - Und in jedem Toilettenbecken wird ganz genau geguckt, ob's irgendwo auch nur die Spur von Urinstein gibt, sogar mit dem Finger reingefahren! Klar, daß einer da was finden muß. Kriegt bestimmt Kopfgeld vom Chef persönlich.

POSTFRAU: Und bei uns wird ja jetzt auch alles privat. Möchte' gar nicht wissen, was denen so alles einfallen wird.

ANNE SCHULZE: Frau Schulze, hat dieser Kerl von Revisor neulich zu mir gesagt: Sehen Sie sich das an! Das sieht man sogar ohne hinzugucken, daß das nicht sauber ist! Binnen zwei Stunden ist das beseitigt, sonst gibt's Konsequenzen! Ich sag Ihnen, Frau Schwatzke, die von der FAKO, die haben es ganz faustdick hinter den Ohren! Einmal haben die mich erwischt, da war ich nur mal schnell ein paar Stullen holen, wirklich keine fünf Minuten! Und schon haben die mir 200 Mark Strafzuschlag zur Pacht aufgebrummt! Wegen vetragswidrigen Entfernens vom Pachtobjekt, wie die in ihrem Jargon zu sagen pflegen.

POSTFRAU: Wollen wir hoffen, daß es mal was Positives ist. Ein Einschreiben. Nimmt aus ihrem Sack ein Kuvert. Es fühlt sich aber schon recht unangenehm an. Weil - eine wie ich, die hat das im Gefühl. Da brauch' ich gar nicht erst aufzumachen, und weiß schon, was drinnensteht.

ANNE SCHULZE: Na, dann geben Sie schon mal her…

Die Postfrau übergibt Anne Schulze das Kuvert und läßt sie auf einer Liste unterschreiben. Anne Schulze öffnet den Umschlag, nimmt den Brief, liest ihn.

ANNE SCHULZE: … erlauben wir uns, Ihnen mitzuteilen, daß unsere Firmenleitung entschieden hat, im Zuge unseres Optimierungsprogrammes das von Ihnen ihm Pachtverhältnis betriebene Objekt auf vollautomatischen Betrieb umzustellen. Deshalb sehen wir uns leider außerstande, Ihren Pachtvertrag nach dem Auslaufen weiter zu verlängern … Nee. Kann nicht sein. Also wirklich. Die sind ja wohl bescheuert! Da brauch' ich erst mal 'nen Korn. Nimmt sich aus dem Erste-Hilfe-Kasten ein Fläschchen.

POSTFRAU: Die wissen schon, was sie tun. Profitmaximierung. Hab'n wir ja gelernt, in der Schule.

ANNE SCHULZE: Da können sie gleich den Laden dichtmachen. Und eine von diesen ekligen Plastebuden hinstellen.

POSTFRAU: Wenn sich's rechnet, machen die alles.

ANNE SCHULZE: Dabei, was die an Pachtzins abkassieren. Die müssen ja nur so im Geld schwimmen. Wenn ich die Kohle hätte, ich hätte ihnen die Bude schon längst abgekauft. Und dann könnten die von der FAKO mich alle mal.

POSTFRAU: Denen oben in ihren Regierungspalästen müßte mal wer ordentlich die Meinung sagen. Sonst kapieren die nie. Was die mit uns alles machen.

ANNE SCHULZE den Händetrockner einschaltend: Sie hören eine Erklärung des Regierungssprechers.

POSTFRAU: Man müßte mal wieder auf die Straße gehen. Wie früher.

ANNE SCHULZE: Daß wieder so 'n neuer alter Einheitskanzler kommt? Nee, danke. Nee, das einzige, was hilft: Kohle machen und nochmals Kohle machen. Und dann sein eigener Chef sein.

POSTFRAU: Oder zu den Waffen greifen. Wozu haben wir denn alle unsere Ausbildung bekommen? Wozu all diese Wehrertüchtigung? Für irgend etwas muß sie ja taugen … Aber ich bin ja im Dienst. Hab' nichts gesagt. Würde sowieso keinen interessieren.

ANNE SCHULZE: Ja, die neue Freiheit. Alles darfst du sagen. Aber es interessiert kein Schwein. Nicht mal mehr die Stasi. Aber die möcht' ich auch nicht wiederhaben. Wie die mich in die Mangel genommen haben. Nach der Scheidung. Wollten mir irgendwas anhängen, damit ich bei denen mitmache.

POSTFRAU: Die haben's ja immer wieder mal probiert.

ANNE SCHULZE: Nee, hab' ich zu mir gesagt: Du machst da nicht mit. Du bleibst anständig. Brauchst nichts von denen, genauso wenig wie aus dem Westen. Sollen die sich 'nen anderen Idioten suchen.

POSTFRAU: Haben die ja leider auch genug gefunden.

ANNE SCHULZE: Ich sage Ihnen, Frau Schwatzke: Wenn diese vielen Idioten nicht gewesen wären. Und jeder hat geglaubt, auf ihn kommt's ohnehin nicht an. Aber wenn genug daran glauben, daß es auf sie nicht ankommt, dann funktioniert das Ganze. Das ist ja das Schreckliche. Ist wie mit der Marktwirtschaft. Wenn genug mitmachen, läuft die Maschine. Weiß zwar keiner wirklich, wofür, aber sie läuft eben.

POSTFRAU: Früher war's eben klar. Gab's Ziele. Den ersten Trabi. Die neue Schrankwand. Einen Urlaubsplatz an der Ostsee. Im FDGB Ferienheim. Einen Campingplatz in Ungarn. Und was hab'n wir jetzt? "Konvergenzkriterium" heißt es jetzt. Jeden Tag gehst du auf Arbeit, mit der Gewißheit: Jetzt tu ich was fürs Konvergenzkriterium. Klingt schon so eklig. Nimmt ihren Postsack wieder auf. Und eigentlich müssen wir alle dankbar sein. Daß wir noch Arbeit haben. Geht ab.

ANNE SCHULZE: Wenn wir sie haben.

© Martin Ohrt

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